Die Geschichte von Maral

Die Geschichte von Maral

Maral ist 16 Jahre alt und lebt in unserem Phoenix-Camp. Ihren Abschluss hat sie erst vor kurzem gemacht, sie war also ein Jahr älter als die meisten anderen Kinder. Sie hatte viel aufzuholen. Geflohen ist ihre Familie als Maral gerade einmal zwei Wochen die erste Klasse einer Grundschule in Homs besucht hatte. Ihr jüngerer Bruder war gerade erst zwei Jahre alt. Ihr Onkel und seine Familie – Marals geliebte Cousinen – flohen nach Europa. Maral hörte die Erwachsenen viel darüber diskutieren. Ihr eigener Vater hielt das für viel zu gefährlich. „Wer nach Europa geht, der kommt nicht wieder. Deine Kinder werden dort zur Schule gehen, sich dort verlieben, Europäer werden. Ihr verliert Syrien.“, sagte ihr Vater zu seinem Bruder. Die Familien trennten sich und Maral vermisst ihre Cousinen bis heute schmerzlich, von denen sie seit diesem Tag nie wieder gehört haben. Maral träumt davon, dass sie in Paris sind oder London, sie kennt Bilder dieser beiden Städte, mit hell erleuchteten Schaufenstern, Straßen-Cafés und schicken Apartments. Aber in den Gesichtern ihrer Eltern, wenn sie über ihren Onkel und seine Familie sprechen, sieht sie, dass das keine wahrscheinliche Möglichkeit ist, dass ihre Cousinen den Traum vom neuen Leben in Sicherheit vermutlich nicht verwirklichen konnten, denn sonst hätten sie sich längst gemeldet.

Maral und ihre Familie flohen damals in den Libanon. „Es wird nicht so lange dauern“, sagten ihre Eltern Freunden gegenüber. „Von dort können wir wieder nach Hause kommen, sobald es vorbei ist.“ Sie sind so nahe wie es irgend geht an ihrer Heimat geblieben. Sobald Maral aus ihrem Zelt tritt, sieht sie die Berge, den Anti-Libanon, die die Grenze zwischen Syrien und dem Libanon darstellen. In zwei Stunden könnte sie die Grenze zu Fuß erreichen, vielleicht sogar noch schneller. In der ersten Zeit nach ihrer Ankunft sahen sie hinter den Bergen Kampfjets fliegen, Bomben einschlagen, Rauch aufsteigen. Das war in der Zeit, in der Maral sich selbst noch nach Europa wünschte, denn hier im Libanon fühlte es sich so an, als sei man noch mitten drin im Krieg. Schulen gab es keine. Häuser auch nicht. Ein Zelt in einem Camp mit hunderten Familien wurde ihnen zugewiesen, ohne Möbel, Erde und Steine auf dem Boden. „So können wir doch nicht leben“, hörte sie in der ersten Nacht ihre Mutter flüsternd zu ihrem Vater sagen. Doch so leben sie mittlerweile seit 10 Jahren. Auf dem Boden liegen mittlerweile Bastmatten und ein großer Teppich. Sie haben Matratzen und ein kleines Regal für ihre wenigen Habseligkeiten. Wider Erwarten fühlt es sich für Maral manchmal wie ein Zuhause an, weil sie ihre alte Wohnung in Damaskus schon kaum mehr vor ihrem inneren Auge heraufbeschwören kann.

Die ersten Jahre gab es keine Schule. Maral war auf den Feldern. Ihre Eltern durften nicht arbeiten, also war das, was sie verdiente, die einzige Möglichkeit für die Familie, zu überleben. Bis heute spricht sie nicht über diese Jahre, will mir nicht erzählen, was die schlimmsten Tätigkeiten waren, welche Ernte die härteste. Ihr Vater versuchte ihr am Abend Lesen beizubringen, aber sie war zu müde. Als Maral 10 Jahre alt war, besuchte ich ihr Camp zum ersten Mal. Es wurde viel über Veränderungen gesprochen, aber Marals Familie war vorsichtig geworden nach zu vielen Enttäuschungen. Die Kinder müssen nicht mehr arbeiten, hieß es plötzlich. Es werde Lebensmittellieferungen geben und eine Schule für die Kinder. Niemand glaubte das. Doch zwei Monate später gab es die Schule und es wurden Pakete mit Reis, Linsen und Bohnen verteilt. In den ersten Monaten hatte Maral jeden Tag Angst, alles wäre nur ein Traum. Jeden Tag fürchtete sie, die Schule sei weg und sie müsse wieder auf die Felder. Sie lernte und lernte, um so viel Wissen wie möglich in kürzester Zeit aufzunehmen, denn nichts ist von Dauer, das hat sie gelernt auf der Flucht. Falls die Schule bald wieder schließen musste, wollte sie so viel wie möglich gelernt haben. Maral machte ihren Abschluss mit 16 Jahren, als hätte sie keinen Tag Schule verpasst, als hätte es weder Krieg noch Flucht noch Feldarbeit gegeben. Besondere Begabungen hat sie im naturwissenschaftlichen Bereich. Immer wieder haben die Lehrer ihr in Mathematik und Physik schwierigere Aufgaben gegeben als dem Rest der Klasse, um sie zu fördern. 

Alle waren überzeugt, dass Maral weiter zur Schule gehen sollte und ihre Eltern waren sehr dankbar für das Angebot. Mit unserem alten Schulbus wird sie jeden tag 20 Minuten durch die Beqaa-Ebene gefahren nach Zahlé. Außer für den Besuch der weiterführenden Schule hat sie vorher das Camp nie verlassen, das wäre zu gefährlich. Selbst zur Schule zu gehen ist ein Risiko, denn Rechte hat sie in diesem Land keine, das weiß sie. Unser Schulbus bringt sie zur Schule und wartet, bis sie mit den anderen Mädchen hineingegangen ist. 10 Minuten vor Schulschluss steht er wieder da. Auf keinen Fall darf es die Situation geben, dass unsere Mädchen auf der Straße warten müssten oder ähnliches. Maral ist stolz darauf, diesen mutigen Weg jeden Tag zu gehen. Nach Schulschluss berichtete sie über alles Gelernte bei den Mädchen, deren Eltern weniger mutig sind, die nicht bereit sind, dieses Restrisiko einzugehen und ihre Mädchen nicht auf die weiterführende Schule schicken. Maral möchte Ingenieurin werden, wie ihr Onkel es war. Er hat in Syrien Brücken gebaut, das fand Maral immer schon faszinierend. Und auch wenn sie sich kaum mehr an Syrien erinnern kann, so ist sie sicher, dass es hunderte Brücken gibt, die neu gebaut werden müssen. Es gibt mittlerweile Jugendliche, die bereits mit der weiterführenden Schule fertig sind und ein Studium begonnen haben. In den Camps werden sie gefeiert wie Popstars. Maral ist voller Bewunderung für diese Stipendiaten und möchte unbedingt eine von ihnen werden. Damit baut sie heute schon Brücken.